Sonntag, 28. August 2011

Natürliche Wirtschaftsordnung

Wirtschaftliche und soziale Auswirkungen

Dr. Ernst Winkler (aus „Theorie der Natürlichen Wirtschaftsordnung“, 1952)

Es wird im Allgemeinen angenommen, dass die Natürliche Wirtschaftsordnung die ganze Weltwirtschaft beherrscht, aber alle Aussagen gelten mit geringfügigen sinngemäßen Einschränkungen auch für einen einzelnen Staat, der mit der Einführung der Natürlichen Wirtschaftsordnung vorangegangen ist.

a) Wirtschaftliche Auswirkungen.

Die auffälligste wirtschaftliche Auswirkung der Natürlichen Wirtschaftsordnung ist das Fehlen der Krisen und Depressionen. Stattdessen herrscht eine beständige Konjunktur, wobei Produktion, Preise und Löhne entweder konstant bleiben oder ganz langsam und stetig steigen. Sie werden nur nach den Regeln des freien Wettbewerbes bestimmt ohne gewaltsame äußere Eingriffe durch so genannte Rechtsordnungen oder gesetzliche Regelungen vonseiten des Staates oder irgendwelcher Organisationen und haben ein Höchstmaß an Elastizität, d. h. Anpassungen an kleinste Änderungen des Wirtschaftsgeschehens. Die staatliche oder gesellschaftliche Wirtschaftsführung begnügt sich damit, die sich langsam ändernden Bedürfnisse des Wirtschaftslebens durch geringfügige Korrekturen der umlaufenden Geldmenge nach der Politik der Indexwährung zu befriedigen (Anmerkung: Der Ausdruck ist etwas unglücklich gewählt, denn zur dauerhaften Stabilisierung einer konstruktiv umlaufgesicherten Indexwährung bedarf es keiner "Politik", schon gar keiner Machtpolitik im heutigen Sinne. Es handelt sich um eine rein verwaltungstechnische und überschaubare Aufgabe, die mit etwa 10% der heute bei der Deutschen Bundesbank Beschäftigten problemlos zu bewerkstelligen ist.) und im übrigen nur alle Störungen von dem in dynamischen Gleichgewichtszuständen fortschreitenden Wirtschaftsgeschehen fernzuhalten. Das für die kapitalistische Wirtschaftsordnung verderbliche Missverhältnis von Investitionszwang und mangelnden Investitionsmöglichkeiten ist aus zwei Gründen restlos aufgehoben. Erstens ist nach Beseitigung der einseitigen Einkommensverteilung ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen Verbrauch und Investition entstanden durch eine wesentliche Steigerung des Verbrauchs auf Kosten der Investition; zweitens eröffnen sich der Investition durch Wegfall des Zinses (Rentabilitätshürde des Urzinses) unerhört neue und praktisch unbegrenzte Möglichkeiten. Jede für die Allgemeinheit nützliche Vermögensanlage in industriellen und allgemeinen wirtschaftlichen Projekten, die bisher wegen ungenügender Rentabilität unterbleiben musste, ist möglich, für den Unternehmer lohnend und für den Sparer erwünscht. Es können Wüsten bewässert und ganze fruchtbare Landstriche unter Glas gelegt werden; für den Bau von Eisenbahnen, Straßen und Kanälen gibt es keine Hemmungen aus Rentabilitätsgründen. Dazu kommt noch ein besonderer Anreiz zu Erfindungen, technischen Neuerungen und zur Schaffung neuer Kapitalarten durch eine Sonderprämie in Gestalt einer Rente (verdienter Knappheitsgewinn aufgrund technischer Innovation), die zwar zeitlich begrenzt ist, aber vorübergehend sogar sehr hoch sein kann. Die Möglichkeit von Wirtschaftskrisen ist zwar insofern noch nicht ganz ausgeschaltet, als es noch immer Teilkrisen infolge fehlgeleiteter Investition geben kann. Aber abgesehen davon, dass diese weder im Ausmaß noch im Umfang ihrer Wirkung mit der allgemeinen Krise verglichen werden können und tatsächliche Reinigungskrisen und Gesundungsprozesse darstellen, sind auch für sie die Entstehungsmöglichkeiten infolge der erhöhten Elastizität, also der empfindlichen Anpassungsvorgänge aller Wirtschaftserscheinungen auf ein bis dahin unbekanntes Maß herabgesetzt.

b) Soziale Auswirkungen im Allgemeinen.

Die sozialpolitische Wertung der Natürlichen Wirtschaftsordnung erhalten wir am einfachsten und überzeugendsten, wenn wir von den gegeißelten, empörenden Missständen der kapitalistischen Geldwirtschaft zu der denkbar gerechtesten und zweckmäßigsten sozialen Ordnung der kapitalfreien Tauschwirtschaft zurückkehren, aber zugleich die Vorteile des Geldes, der Vermögensbildung und sogar einer vorübergehenden Kapitalbildung bestehen lassen. Es gibt in der Natürlichen Wirtschaftsordnung kein arbeitsloses Einkommen mehr oder genauer gesagt: kein Einkommen ohne sozialpolitisch wertvolle Leistung. Die beiden Arten des arbeitslosen Einkommens (unverdienter Knappheitsgewinn), Zins (einschließlich der Sachkapitalrente) und Spekulationsgewinn, sind restlos beseitigt, die erste durch das natürliche wirtschaftliche Gleichgewicht selbst, die zweite durch die normalen, stetigen und krisenfreien Wirtschaftsverhältnisse. Die vorübergehende Rente für neu geschaffene Kapitalien (verdienter Knappheitsgewinn) kann, wenn nicht als ausgesprochenes Arbeitseinkommen, so zum wenigsten als gerechte und zweckmäßige Sonderprämie für besondere Leistungen angesehen werden. Das Geld ist also nichts anderes als der Nachweis vollbrachter und empfangener Leistung und Berechtigungsschein für den Empfang gleichwertiger Gegenleistung. Das Tauschverhältnis aber zwischen vollbrachter und empfangener Leistung bestimmt nicht irgendeine staatliche oder gesellschaftliche Autorität nach willkürlich festgesetzten Maßstäben, sondern entscheiden die Wirtschaftsteilnehmer selbst im freien Wettbewerb. Eine gerechtere Wirtschaftsordnung als diese kann es nicht geben, die notwendig von allen Teilnehmern selbst als gerecht empfunden werden muss und die sozusagen jedem zugleich das „größte“ Stück sichert.
    Hieraus folgt weiter, dass die krassen Unterschiede zwischen den Einkommens- und Vermögensverhältnissen beseitigt sind. Es bestehen nur noch die in Fleiß und Leistungsbereitschaft der einzelnen Wirtschaftsteilnehmer begründeten Unterschiede, die grundsätzlich Not und Elend ebenso ausschließen wie den erstickenden Überfluss und die in ihrem wesentlich bescheideneren Ausmaß durchaus berechtigt sind. Die wenigen, wegen Arbeitsunfähigkeit unterstützungsbedürftigen Fälle können zum größten Teil privat und zum kleineren Teil ohne spürbare Belastung von der Allgemeinheit getragen werden.
    Der Einkommensausgleich zwischen den Wirtschaftsteilnehmern fördert auch den sozialen Ausgleich der Standesunterschiede, da die verschiedenen Stände und Berufe sich nicht mehr in erster Linie wirtschaftlich unterscheiden. Dazu kommt, dass die Berufswahl nicht mehr durch wirtschaftliche und soziale Vorrechte, sondern nur durch Begabung und Neigung bestimmt wird. Denn ihre finanziellen Vorbedingungen sind wegen des weitgehenden Einkommensausgleichs nicht mehr so entscheidend. Auch die kulturellen Güter: Wissenschaft, Kunst, Vergnügen und Reisen sind nicht mehr das Vorrecht bestimmter Stände oder des Geldbeutels, sondern ausschließlich Vorrecht der Begabung und Neigung. Es steht jedem frei, sein Einkommen mehr für materielle oder mehr für ideelle Güter zu verbrauchen und seine Zeit in höherem Maß auf den Gelderwerb oder mit Einschränkung seines materiellen Lebensstandards auf persönliche Liebhabereien zu verwenden. Es hat auch jeder die Wahl, ob er die durch eine bescheidenere Lebensführung erkaufte Freizeit gleichmäßig auf alle Arbeitstage des Jahres verteilen oder in geschlossene Urlaubszeiten vereinigen will. Jedenfalls genügt für den kleinen Mann zur Erreichung seines jetzigen Lebensstandards, wie wir sogleich näher begründen werden, ein Bruchteil der jetzt nötigen Arbeitszeit. Auch Urlaub und Freizeit sind also in der Natürlichen Wirtschaftsordnung keine Standesvorrechte mehr.
    Der Einkommensausgleich bedeutet naturgemäß eine Einkommenserhöhung für die bisher so genannten „unteren“ Schichten der Bevölkerung. Dazu kommt aber noch eine weitere, sehr beträchtliche Einkommenserhöhung infolge der Steigerung und des ungestörten Verlaufs der Produktion, da ja das Einkommen in der Natürlichen Wirtschaftsordnung nur der leistungsmäßige Anteil des Einzelnen an der Gesamtproduktion ist. Erstens fallen alle Unterbrechungen, Hemmungen und Störungen der Produktion durch Depression und Absatzkrisen fort zugunsten einer andauernden und stetigen Konjunktur; in diesen Zusammenhang gehört auch die in der Natürlichen Wirtschaftsordnung folgende Beseitigung der großen Menschheitskatastrophen in Form der Völkerkriege. Zweitens sind alle Kräfte unmittelbar oder mittelbar tätig in den Produktionsprozess eingegliedert, sowohl die bisher von fremdem Fleiß lebenden Kapitalisten und Spekulationsgewinnler als auch die große, bis zu 40 % der Bevölkerung ausmachende Zahl von Menschen, die in unproduktiver Weise nur vom Zwischenhandel, also von der Verteilung und Verteuerung der Güter lebten. Denn die von Depressionen und Absatzkrisen freie beständige Konjunktur und die laufende hohe Nachfrage von Verbrauchsgütern von Seiten der gut verdienenden breiten Massen machen den aufgeblähten Handelsapparat mit allen Vertretern und aller Geschäftsreklame überflüssig. Das Leben ist „billig“ in dem Sinn, dass man für die gleiche Arbeitsleistung als Tauschwert ein Vielfaches an Gütern erhält, verglichen mit unserer kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Das bedeutet zugleich, dass das Einkommen der breiten Massen, vor allem der so genannten „unteren“ Schichten, sich im Verhältnis vervielfacht.

c) Soziale Auswirkungen im Einzelnen.

1. Der Arbeiter sieht in der Natürlichen Wirtschaftsordnung endlich seine Forderung nach sozialer Gerechtigkeit erfüllt, während der Geldkapitalismus ihn entweder brutal abweist oder achselzuckend bemitleidet oder bestenfalls mit armseligen Almosen in Form von sozialer Fürsorge abzuspeisen sucht. Er hat als Angehöriger des bisher untersten Standes den größten Vorteil der vorstehend geschilderten wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen. Wir brauchen sie nicht nochmals zu wiederholen, sondern wollen die geänderte Sachlage nur durch ein einziges kleines Beispiel schlaglichtartig beleuchten: Es ist in der Natürlichen Wirtschaftsordnung sehr leicht möglich, dass ein begabter Arbeiter bei bescheidenem persönlichem Lebensaufwand nebenher einen Privatgelehrten oder Künstler abgibt oder umgekehrt: dass ein Privatgelehrter oder Künstler sich nebenbei in der Fabrik seinen notwendigen Lebensunterhalt verdient, solange seine „höhere“ kulturelle Tätigkeit als materielle Lebensgrundlage nicht ausreicht.

2. Der Beamte und Angestellte muss es sich gefallen lassen, dass auch er nur nach seiner Arbeitsleistung bezahlt wird. Jeder Mehrertrag seines Einkommens, der als Rente für das in der Berufsausbildung investierte Kapital aufzufassen ist, fällt weg. Dafür erspart er auch die Opfer und finanziellen Schwierigkeiten dieser Ausbildung. Sein etwa noch bestehendes Mehreinkommen gegenüber dem Arbeiter ist nur in seiner höherwertigen Leistung begründet und wird im freien beruflichen Wettbewerb nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage entschieden. Das Angebot für diese Berufe stellen alle begabten und strebsamen Menschen mit Wegfall der bisherigen sozialen und wirtschaftlichen Bevorrechtungen. Daher wird das Realeinkommen des Beamten und Angestellten nicht mehr so hoch über dem des Arbeiters stehen, aber im Vergleich zu seiner jetzigen Höhe noch immer beträchtlich größer sein, von wenigen Spitzengehältern abgesehen.

3. Der Bauer steht naturgemäß der Natürlichen Wirtschaftsordnung zunächst ablehnend gegenüber, weil die Sozialisierung des Bodens seinen bäuerlichen Besitzstolz bedroht. Der Bauer hat für seine Ablehnung nur psychologische, wenn auch vielleicht sehr starke psychologische, aber keine sachlichen Gründe. Denn er wehrt sich gegen eine entschiedene Besserung seiner Lage, weil er sich an eine Fiktion klammert. Oder ist für ihn das „Eigentum“ des Bodens etwas anderes als eine Fiktion? Der Bauer hat in der Natürlichen Wirtschaftsordnung Teil an der allgemeinen Wirtschaftsbelebung und der Erhöhung, ja Vervielfachung der unteren Einkommen und hat dabei das uneingeschränkte Verfügungsrecht über seinen Bauernhof sehr im Gegensatz zu den zahlreichen Perioden der kapitalistischen Misswirtschaft, die ihm die Art der Bebauung und Bewirtschaftung sowie den Preis seiner Erzeugnisse durch gesetzliche Regelung, polizeiliche Überwachung oder kapitalistischen Druck vorschreiben. Freilich: er zahlt einen Pachtzins, d. h. er zahlt je nach Größe seines Grundbesitzes eine Einkommenssteuer, die lediglich den sozialen Ausgleich für den verschieden hohen Ertrag der einzelnen Kapitalien bedeutet. Die Höhe dieses Pachtzinses steht in keinem Verhältnis zu den hohen Zins- und Tilgungsraten, die der Bauer in der heutigen Wirtschaftsordnung fast regelmäßig aufbringen muss, um z. B. seine Miterben auszuzahlen. Sie wird überdies durch den freien Wettbewerb der Bauern selbst bestimmt, kann sich also niemals ungünstig verschieben wie die Zinsen des gegenwärtigen Systems, so dass der Bauer oft von der finanziellen Last erdrückt und von Haus und Hof vertrieben wurde. Der Pachtvertrag läuft je nach Vereinbarung auf 5, 10 und 20 Jahre oder Lebenszeit mit Vorpachtrecht für die Kinder und die nächsten Angehörigen und er sichert dem Bauern und seiner Familie den „Besitz“ des Hofes wesentlich besser als unsere gegenwärtige Wirtschaftsordnung. Andererseits kann der Bauer jederzeit ohne finanzielle Verluste und wirtschaftliche Schwierigkeiten zum Wanderstab greifen und umsiedeln. Ein Raubbau am Boden kann leicht durch Entschädigungspflicht des Bauern verhindert werden, wobei die Kontrolle sich unter anderem auf den Vergleich mit dem nächstfolgenden, im freien Wettbewerb entschiedenen Pachtzins stützen kann.

4. Der Sparer wird ebenfalls aufgrund einer nur flüchtigen Kenntnis zunächst ein ablehnendes Urteil über die Natürliche Wirtschaftsordnung fällen. Aber seine psychologische Hemmung kann leichter beseitigt, sein Irrtum leichter aufgeklärt werden. Es ist richtig, dass die Ersparnisse nicht mehr als Kapital, sondern nur noch als reines Vermögen angelegt werden können. Daher gibt es keine andere Nutznießung von Ersparnissen als die Aufzehrung des ersparten Vermögens und es gibt keine andere Vermögensbildung als aus den Ersparnissen des Arbeitseinkommens. Damit ist der eigentliche und ursprüngliche Zweck des Sparens wieder hergestellt: zweckmäßige zeitliche Verteilung im Verbrauch des Arbeitseinkommens, aber nicht Gewinnung eines zusätzlichen arbeitslosen Einkommens. Dass durch den Wegfall des Zinses der Anreiz zum Sparen nicht geringer wird, ist begründet durch die Gleichheit des relativen Zinsfußes zwischen -5% und 0% in der Natürlichen Wirtschaftsordnung sowie zwischen 0% und +5% in der kapitalistischen Geldwirtschaft. Aber der Sparer fühlt sich betrogen; denn er verliert den bescheidenen Zins seiner sauer verdienten Ersparnisse, er verliert die Möglichkeit einer zusätzlichen Vergrößerung seines Sparguthabens im Laufe der Zeit. Und doch zeigt ihm eine einfache Rechnung, um wie viel er sich dabei im Ganzen genommen besser stellt. Denn es ist nur eine bescheidene Schätzung, wenn wir beispielsweise eine Verdoppelung des Einkommens für den kleinen Sparer annehmen. Wenn er nun bisher 10% seines Einkommens gespart hat, so könnte er also in der Natürlichen Wirtschaftsordnung bei gleichem Lebensstandard 110% seines früheren Einkommens, also das elffache seiner früheren Ersparnis zurücklegen. Allerdings wird er seinen Lebensstandard heben und vielleicht nur das Drei- oder Fünffache von früher sparen, aber auch damit eine Summe erreichen, die ihm früher auch mit allen Zinsen und Zinseszinsen der kapitalistischen Geldwirtschaft bei Lebzeiten unerreichbar war. Und diese Ersparnisse sind ihm gesichert in einer krisenfreien Wirtschaftsordnung. Wie viele Sparer haben schon ihr ganzes, sauer erworbenes Vermögen durch wirtschaftliche und politische Krisen mit Einschluss der Kriege oder zugunsten betrügerischer Kapitalisten oder bankrotter Spekulanten verloren? Ist es nicht besser, der Sparer verzichtet auf die trügerischen Zinsen und zehrt stattdessen ein Sparvermögen auf, das um ein Vielfaches größer und vor Verlusten gesichert ist? Aber wie soll er es einteilen, um damit gerade bis zum unbekannten Zeitpunkt seines Lebensendes auszukommen? Hierüber wird ihn der nächste Agent einer Lebensversicherung, die natürlich auch ohne Zins, aber nicht ohne Gewinn arbeitet, mit liebenswürdiger Bereitwilligkeit aufklären. Auch der Abschluss weiterer Versicherungen für Alter, Krankheit, Unfall usw. ist dem freien Willen des Sparers anheim gestellt; denn die Gesellschaft wird sich keinesfalls mehr mit solchen Sozialversicherungen belasten, die bei den gegenwärtigen Wirtschaftsverhältnissen des unzulänglichen Arbeitseinkommens, der Wirtschaftskatastrophen und der Arbeitslosigkeit nur einen notwendigen und sehr mangelhaften Ausgleich für die Sünden unseres Wirtschaftssystems darstellen.

5. Der Unternehmer betrachtet von vorneherein alle sozialen oder gar sozialistischen Reformversuche mit wohlbegründetem Misstrauen. In der Tat versuchen sie zumeist die praktischen Konsequenzen aus der marxistischen Lehre zu ziehen, der Unternehmer sei der Ausbeuter, also der natürliche Feind des Arbeiters.
    Unsere Untersuchungen haben diesen grundsätzlichen Irrtum berichtigt und mit aller Schärfe abgelehnt. Nicht zwischen dem Arbeiter und dem Unternehmer verläuft die Kampffront, sondern zwischen dem Arbeitseinkommen und dem arbeitslosen Einkommen wird der klare Trennungsstrich gezogen – quer durch alle Berufe und Stände. Nur das echte Proletariat, also der völlig mittellose Arbeiter steht ganz auf der einen Seite, nur der reine Kapitalist, also der ausschließlich vom Rentenertrag (Zinsen und Renditen) lebende „funktionslose Investor“ (nach J. M. Keynes) steht ganz auf der anderen Seite dieser Linie. Der reine Unternehmergewinn und auch der reine Handelsgewinn – „rein“, d. h. säuberlich geschieden von allen Zins-, Renten- und Spekulationsgewinnen – ist Arbeitseinkommen so gut wie der Lohn des Arbeiters. Freilich, die Trennungslinie geht auch durch das Herz und den Geldbeutel des einzelnen Wirtschaftsteilnehmers hindurch – beim Unternehmer noch fühlbarer und schmerzlicher als beim Bauern, Beamten und beim kleinen Sparer. „Zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust“: die Seele des Unternehmers und die des Kapitalisten; „die eine muss sich von der anderen trennen“, so ungern sie auch will. Es bleibt keine andere Wahl, nicht nur im Interesse des Arbeiters, im Interesse der Gesamtheit, im Interesse einer funktionsfähigen und reibungslosen Wirtschaft – nein, auch gerade im eigensten wohlverstandenen Interesse des Unternehmers selbst, sofern er im Grund seines Wesens wirklich Unternehmer ist!
    Rein finanziell gesehen muss in der Natürlichen Wirtschaftsordnung der Unternehmer ebenso wie der selbständige Handwerker, der Bauer und der Beamte auf jenen Teil seines Einkommens verzichten, der sich aus der Rentabilität seines investierten Kapitals ergibt, zugunsten des dadurch erhöhten Arbeitseinkommens, wobei die Erhöhung allerdings für die größeren Einkommen relativ geringer ist als für die niedrigen. Es ist also ausschlaggebend, in welchem Verhältnis sich diese beiden Einkommensarten zusammensetzen; so gehört z. B. ein Unternehmer, der vorwiegend mit fremdem Kapital arbeiten muss, selbst zu den Ausgebeuteten des kapitalistischen Systems.
    Aber eine solche Rechnung verkennt den wahren Sachverhalt und den Ernst der Lage. Der Unternehmer, der an seiner Kapitalrente festhalten will, unterliegt der gleichen gefährlichen Täuschung wie der kleine Sparer, der auf die trügerischen Zinsen seines Sparguthabens nicht verzichten will. Beide bezahlen diese Illusion mit einem ungleich größeren Verlust, der die Existenz des Unternehmers noch viel unmittelbarer bedroht, als die des kleinen Sparers. Es ist eine trügerische Illusion, wenn der Unternehmer nur an die überhöhten Gewinne in den Perioden kapitalistischer Hochkonjunktur denkt und nicht an die immer wieder mit unausweichlicher innerer Notwendigkeit darauf folgenden Wirtschaftskrisen mit dem Zusammenbruch der meisten Unternehmungen und der Vernichtung ungezählter wirtschaftlicher Existenzen.
    Der von uns aufgedeckte Konstruktionsfehler des kapitalistischen Systems bedingt aber nicht nur diese periodisch wiederkehrende Schädigung des Unternehmertums, sondern er führt auf lange Sicht zu einer ernsten Gefährdung seiner Existenz durch die immer brennender werdende soziale Frage. Solange diese nicht endgültig gelöst und bereinigt ist, werden die Angriffe aus dem sozialistischen Lager gegen das Unternehmertum mit wachsendem Erfolg fortgesetzt in der Gewerkschaftspolitik, in den Kämpfen um Lohnerhöhung und Mitbestimmung, in den Sozialisierungsbestrebungen, die sich erfolgreich des staatlichen Machtapparates bedienen. Das Ziel ist die vollständige Sozialisierung der Produktionsmittel mit Vernichtung der freien Unternehmerinitiative – im genauen Gegensatz zu der von uns vorgeschlagenen „Sozialisierung“ des Kapitals mit Erhaltung des privaten Besitzes und des vollen Verfügungsrechtes über die Produktionsmittel. Diese sozialistische Entwicklungstendenz begegnet sich mit merkwürdiger Einmütigkeit mit der vielleicht noch gefährlicheren kapitalistischen Tendenz einer staatlichen Investitionspolitik, welche die Vollbeschäftigung um den Preis einer verlustreichen Investition ermöglichen, dem Staat das Risiko aufbürden und dem Kapital den ungeschmälerten Zinsertrag auch bei abnehmender Rentabilität zu Lasten des Steuerzahlers garantieren soll. Das Ende dieser Entwicklung kann nur sein, dass jedes freie Unternehmertum in der überwuchernden staatlichen Bürokratie vollends erstickt!
    Zwischen diesen sozialistischen und kapitalistischen Entwicklungstendenzen bedeutet die hier geschilderte Natürliche Wirtschaftsordnung den einzig möglichen Ausweg zur Rettung des Unternehmertums in einer freien und zugleich sozial gerechten Wirtschaft. Sie gewährt dem Unternehmertum genau das, was es zu seiner Entfaltung nötig hat: eine beständige, krisenfreie Vollbetriebswirtschaft mit fester Währung, stetiger Entwicklung der Löhne und Preise und gesichertem Absatz. Denn die Produktion schafft sich dank der Politik der Indexwährung mit Umlaufsicherung selbst den erforderlichen Absatz durch die ungehemmte Zirkulation des Geldes und zwar in gerechter Verteilung des Einkommensstromes auf die breite Masse der arbeitenden und verbrauchenden Bevölkerungsschichten. Die Macht des Kapitals, die Überlegenheit des Geldbesitzers über den Besitzer und den Produzenten der Waren ist gebrochen, Geld und Kapital sind der Produktion und Verteilung der Waren dienstbar geworden; denn auch eine Kapitalneubildung ist noch möglich, aber nur in den Händen und zu Gunsten des Unternehmers als eine vorübergehende Erscheinung, d. h. mit zeitlich begrenztem Rentenertrag als einmaligem Lohn für eine einmalige besondere Leistung.       


Die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Befreiung der Marktwirtschaft vom parasitären Gegenprinzip des Kapitalismus durch eine freiwirtschaftliche Geld- und Bodenreform (Natürliche Wirtschaftsordnung = echte Soziale Marktwirtschaft) können auch heute nicht besser zusammengefasst werden, sodass ich die Ausführungen von Dr. Ernst Winkler übernommen habe. Die auf den Sozialphilosophen Silvio Gesell (1862 – 1930) und sein makroökonomisches Grundlagenwerk „Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“ (1916) basierende Freiwirtschaftslehre führt alle anderen makroökonomischen Theorien (Halbwahrheiten) ad absurdum und konnte sich allein aus psychologischen Gründen bis heute nicht durchsetzen; denn vor dem eigentlichen Beginn der menschlichen Zivilisation steht die Überwindung der Religion:


Stefan Wehmeier, 28. August 2011


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