Montag, 10. Dezember 2012

Die Lösung der Sozialen Frage



Der folgende Artikel entspricht im Wesentlichen dem Schlusskapitel des gleichnamigen Buches von Otto Valentin aus dem Jahr 1952. Ich habe lediglich einige Formulierungen geändert, um Missverständnisse auszuschließen, sowie ein paar kleinere Fehler korrigiert:

Es sind immer nur die Wirtschaftsmonopole, die - im Verein mit der fast dauernd betriebenen Währungspfuscherei - gleichermaßen die sozialen und die ökonomischen Störungen verursachen. Die Wirtschaftsform des Privatkapitalismus ist ihrem Wesen nach eben nicht, wie in der Regel angenommen wird, eine Wirtschaft des freien Wettbewerbes, sondern in Wahrheit eine Monopolwirtschaft, die vor allem auf den primären Monopolen (Zins-)Geld und Boden beruht. Sie ist aus diesem Grund auf die Dauer ebenso wenig haltbar, wie dauernder Zinseszins in der Praxis möglich ist. Die monopolbedingten Störungen führen zwangsläufig zu gesteigerten staatlichen Eingriffen in den Wirtschaftsablauf, die unter der Bezeichnung Planwirtschaft allgemein bekannt sind. Die Eingriffe der staatlichen Planwirtschaft bilden ihrem Wesen nach - ebenso wie die Kartelle und Konzerne der privaten Planwirtschaft - nichts anderes als zusätzliche, sekundäre Monopole, das heißt, der ohnehin beschränkte Wettbewerb wird durch sie noch mehr eingeschränkt.

Um die von den beiden primären Monopolen Geld und Boden verursachten sozialen Spannungen zu mildern und der ausgebeuteten Masse ein Surrogat für die fehlende wirtschaftliche Sicherheit zu bieten, greift der Staat neben der bereits erwähnten Schaffung zusätzlicher Monopole aller Art zu einer komplizierten und unübersichtlichen Sozialgesetzgebung, was den allgemein zu beobachtenden Drang zur Bürokratisierung weiterhin verstärkt.

Staatliche Planwirtschaft und Sozialgesetzgebung entkleiden das privatkapitalistische System wohl einerseits seiner anstößigsten Formen, sind aber zugleich die Schrittmacher des Totalitarismus. Sie versuchen dem Kapitalismus ein freundliches Lächeln aufzuschminken, ohne indes an der monopolbedingten Ausbeutung etwas zu ändern. So entwickelt sich allmählich eine Art „Sozialkapitalismus“, ein Mittelding zwischen Privat- und Staatskapitalismus, eine Übergangserscheinung von der einen zur anderen Ausbeutungsform. Im „Sozialkapitalismus“ haben die Vertreter des Privatkapitalismus und des Pseudo-Sozialismus ihren Frieden geschlossen. Der Zins wird sozusagen staatlich garantiert und im Übrigen einer wirtschaftlichen Depression, die das ganze Kartenhaus zweifelhafter Kompromisse zusammenstürzen lassen würde, durch das Mittel der dosierten Inflation vorgebeugt.

Die im Zuge dieser Fehlentwicklung fortschreitende Monopolisierung wandelt den „Sozialkapitalismus“ allmählich zum Staatskapitalismus. An die Stelle der lediglich von einigen Monopolen verfälschten Marktwirtschaft tritt immer mehr die auf eine vollständige Monopolisierung hinzielende staatliche Befehlswirtschaft.

Privat- und Staatskapitalismus bilden also, entgegen einer weit verbreiteten Ansicht, keine Gegensätze, sondern sind trotz aller äußerlichen Unterschiede völlig gleichartig, da beide ihrem Wesen nach auf Monopolen beruhen, das heißt auf einer Einschränkung, wenn nicht gar auf dem Ausschluss der Konkurrenz. Das Ausbeutungsprinzip ist bei beiden das gleiche. Privatkapitalismus ist eine halbmonopolistische Wirtschaftsform, Staatskapitalismus eine ganzmonopolistische. An die Stelle des individuellen Kapitalisten im Privatmonopolismus tritt im Staatsmonopolismus das „solidarische Korps der Führer der herrschenden Partei“, die ein allgemeines Wirtschaftsmonopol des Staates aufgerichtet haben und mit seiner Hilfe die unterjochte Masse grenzenlos ausbeuten. Der Staat ist zugleich Machtapparat und Ausbeutungsinstrument in den Händen der Führer der herrschenden Einheitspartei.

Im Hinblick auf das Ausbeutungsprinzip besteht also zwischen Privat- und Staatskapitalismus kein Wesens-, sondern nur ein gradueller Unterschied. Hingegen besteht in der Form des wirtschaftlichen Regulierungsprinzips ein sehr wesentlicher Unterschied: Im Privatkapitalismus ist es der - durch Monopole allerdings bis zu einem gewissen Grad verfälschte - Markt, im Staatskapitalismus ist es der „Befehl von oben“. Beide Wirtschaftsformen sind Anfang und Ende ein und derselben Fehlentwicklung, deren letztes Ergebnis der Totalitarismus, die schrankenlose Staatsdespotie bildet.

Den tatsächlichen Gegenpol sowohl zum Privat- als auch zum Staatskapitalismus bildet einzig und allein die - bisher noch niemals und nirgends verwirklichte - freie Marktwirtschaft. Unter einer freien Marktwirtschaft ist eine von Monopolen freie Wirtschaft zu verstehen. Eine solche entmonopolisierte Wirtschaft ist zugleich der Idealtypus einer echten Sozialen Marktwirtschaft. Monopolfreiheit und Soziale Marktwirtschaft sind praktisch ein und dasselbe.

Um den Fehlerzirkel zu durchbrechen und zu einer echten Sozialen Marktwirtschaft zu gelangen, gibt es nur ein einziges Mittel: Den Kampf gegen die Monopole. Erst wenn die entbehrlichen künstlichen Monopole beseitigt und die natürlichen unschädlich gemacht sind, kann die bisherige Fehlentwicklung zum Totalitarismus aufgehalten und in die Bahnen eines ungeahnten Wirtschafts- und Kulturaufstieges umgelenkt werden.

Unter einem Kampf gegen die Monopole verstehen wir allerdings nicht die bisherigen Bestrebungen, die sich so nennen, etwa im Sinne einer Anti-Trustgesetzgebung oder eines Kartellgesetzes. Solchen Bemühungen kann, da sie ihre Spitze nicht gegen die beiden Urmonopole, sondern lediglich gegen deren Folgen, die sekundären Monopole, richten, kein wesentlicher Erfolg beschieden sein. Kampf gegen die Monopole bedeutet vor allem: Angriff auf die beiden Urmonopole (Zins-)Geld und Boden durch eine freiwirtschaftliche Geld- und Bodenreform.

Eine Überwindung der Monopole bedeutet zugleich die innerstaatliche Überwindung der Bedrohung durch den Totalitarismus. Diese Bedrohung ist kein außerhalb des Staates liegendes und schon gar kein Kriegs-, sondern ein innerstaatliches Wirtschaftsproblem, organisch zu lösen nur durch die aufgezeigten ordnenden Maßnahmen, die eine Erholung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse bewirken. Jeder Staat für sich besitzt die Möglichkeit, den unter der unerhörten Spannung der sozialen Frage erzitternden Boden des Kapitalismus zu jeder beliebigen Stunde zu verlassen und den Ausweg in die Freiheit, in die allein entscheidende wirtschaftliche Freiheit, zu beschreiten.

Diese Freiheit kann es nur in einer wahrhaft freien Marktwirtschaft geben. Sie allein vermag das Ideal des vollen Arbeitsertrages zu verwirklichen und damit die uralte Soziale Frage zu lösen, die Jahrtausende alte Sehnsucht der Menschen zu erfüllen.

Eine freie Marktwirtschaft ist nicht nur gleichbedeutend mit einer Sozialen Marktwirtschaft, sie ist zugleich die Gerechtigkeit schlechthin – die absolute soziale Gerechtigkeit in vollkommener Freiheit!

Eine Wettbewerbsordnung der vorgeschlagenen Art verwirklicht aber endlich auch das Ideal der Demokratie (Basisdemokratie). Demokratie setzt Gleichberechtigung voraus, die es innerhalb der herkömmlichen halbmonopolistischen Wirtschaft nicht geben konnte. Unter der Herrschaft von Vorrechten wird die Demokratie zur Lüge, zu einem Zerrbild.

Eine Verfassung, und mag sie noch so ideal und demokratisch gedacht sein, bietet keinen Schutz vor dem drohenden Totalitarismus, wenn sie nicht die wirtschaftliche Freiheit, das uneingeschränkte Recht zur Beteiligung am Wettbewerb - verkörpert im monopolfreien Markt -, mit einschließt.

Die Soziale Marktwirtschaft lässt sich nur auf evolutionärem Wege verwirklichen. Sie ist eine ordnende Maßnahme. Sie ist aber auch notwendig in des Wortes tiefster Bedeutung; denn nur sie vermag die Not, in der wir uns befinden, zu wenden.

In wirtschaftlicher Beziehung eröffnen die vorgeschlagenen Reformen weit reichende Ausblicke. Es wird eine neue Ära des privaten Unternehmertums von ungeahntem Ausmaß anbrechen. Das unaufhörlich und regelmäßig umlaufende Geld im Verein mit einer Festwährung, die es den Unternehmern erlaubt, auf lange Sicht zu planen, wird einen dauernden Wirtschaftsvollbetrieb sichern.

Der allgemeine Wohlstand wird zunehmen, die Arbeitseinkommen aller Art werden durch allmähliches Wegfallen der verschiedenen Formen des arbeitslosen Einkommens steigen, um zuletzt die Höhe des vollen Arbeitsertrages zu erreichen. Der Lohn wird sich zu Lasten des Zinseinkommens erhöhen. Unterschiede der Lohnhöhe werden lediglich in verschiedener persönlicher Leistung begründet sein.

Es wird jedem Einzelnen überlassen bleiben, ob er, sobald er genügend Güter besitzt und keine weiteren Ersparnisse in Kreditform zu machen wünscht, die Arbeitszeit verkürzt. Für Sicherheit im Alter wird durch die verschiedenen Formen des Sparens einschließlich der Altersversicherung vorgesorgt werden können - durch ein Sparen, das allen, die arbeiten, wegen ihres höheren Einkommens möglich sein wird, ohne dass sie sich Entsagungen auferlegen müssen.

Wenn man Reichtum als Verfügungsmacht über Personen, Wohlstand hingegen als Verfügungsrecht über Dinge übersetzt, dann wird in einer freien Wettbewerbsordnung der skizzierten Art der Reichtum der Wenigen durch den Wohlstand der Vielen abgelöst werden. Reichtum und Armut, diese beiden ebenso ungleichen wie unzertrennlichen Geschwister, werden dann gleichermaßen der Vergangenheit angehören.

Die Durchführung der vorgeschlagenen Reformen wird eine Wirtschaftsordnung ergeben, die mit vollem Recht als eine Natürliche Wirtschaftsordnung bezeichnet werden kann, natürlich deshalb, weil sie der Natur der Menschen in jeder Beziehung gerecht wird. Diese Natur haben wir als vorwiegend eigennützig kennen gelernt. Heute, unter der Herrschaft der Monopole, widerstreitet die Betätigung des Eigennutzes oft genug dem gemeinen Wohl. Daher die gut gemeinten Ratschläge der Moralisten und Ethiker, den Eigennutz zu bekämpfen. Sie haben nicht begriffen, dass der Eigennutz an und für sich durchaus am Platze ist, und dass es nur einige rein technische Mängel unserer Wirtschaft sind, derentwegen der Eigennutz so häufig zu Ungerechtigkeiten führt. In einer monopolbefreiten Wirtschaft hingegen, in der es nur eine Art des Einkommens, den Lohn, geben wird, laufen Eigennutz und Gemeinnutz dauernd parallel. Je mehr die Einzelnen dann, ihrem Eigennutz gehorchend, arbeiten, umso besser werden sie den Interessen der Allgemeinheit dienen.

Der heutige endlose Widerstreit zwischen Eigennutz und Gemeinnutzen ist eine ganz zwangsläufige Folge des herrschenden Geldstreik- und Bodenmonopols. Eine von diesen beiden Monopolen befreite Wirtschaft entzieht diesem Widerstreit für immer die Grundlage, weil in ihr der Mensch aus Eigennutz stets so handeln wird, wie es das Gemeininteresse erfordert. Die seit Jahrtausenden von Religionsgründern, Religionslehrern, Philosophen, Moralisten usw. aufrecht erhaltene Lehre von der Sündhaftigkeit der menschlichen Natur wegen ihrer Eigennützigkeit findet damit ein für allemal ihr Ende. Es ist keineswegs notwendig, dass wir, diesen Lehren folgend, uns durch Äonen hindurch abmühen, um uns selbst zu überwinden, um eines Tages vielleicht doch noch gemeinnützig zu werden - sondern wir können schon jetzt, heute, in dieser Stunde, die Verbrüderung der bisherigen Widersacher Eigennutz und Gemeinnutz vollziehen. Es ist dazu nicht erforderlich, dass wir den Menschen reformieren, es genügt vielmehr, wenn wir das fehlerhafte Menschenwerk, unser Geldwesen und Bodenrecht, ändern.

Auch noch in anderer Beziehung wird die angestrebte Wirtschaftsordnung zu gesünderen und natürlicheren Verhältnissen führen. Der Grundsatz des Wettbewerbes, der überall in der Natur zu beobachten ist, wird auch auf dem Gebiet der Wirtschaft mehr als bisher wirksam werden. Heute ist dieser Wettkampf durch die bestehenden Monopole weitgehend verfälscht. Die in der Wirtschaftsarena einander gegenübertretenden Kämpfer sind sehr verschieden gerüstet. Der Kampf wird auf einer ungleichen Ebene ausgetragen. Infolgedessen siegt in der Regel nicht der Tüchtigere, sondern der besser gerüstete Monopolinhaber über den ungerüsteten Gegner, der oft gar keine Gelegenheit hat, zum Zug zu kommen.

Die vorgeschlagenen Reformen im Sinne einer echten Sozialen Marktwirtschaft werden den Staat allmählich von all den Aufgaben entbinden, die ihm als Folge der bisherigen monopolbedingten Fehlentwicklung zu Unrecht aufgebürdet worden sind, die er ohnedies nicht befriedigend lösen kann und an denen er daher dauernd krankt. Im gleichen Maß, wie die soziale Befriedung fortschreitet, wird man den Staat abbauen können. Das will freilich nicht besagen, dass es für ihn auf wirtschaftlichem Gebiet nun nichts mehr zu tun gäbe. Sein Aufgabengebiet wird sich wandeln. Er wird sich nicht mehr, so wie heute, mit Dingen beschäftigen müssen, die der einzelne Bürger besser und vor allem wirtschaftlicher zu erledigen vermag, sondern er wird sich auf diejenigen Gebiete beschränken, auf denen der Einzelne auch beim besten Willen allein nichts ausrichten kann. Gleicht der heutige Staatshaushalt einem Fass ohne Boden und der Finanzminister einem Entdeckungsreisenden für neue Steuern, so wird der Abbau des Beamten- und Angestelltenapparates wie er im Gefolge der vorgeschlagenen Reformen eintreten wird, ganz zwangsläufig die Steuern auf ein erträgliches Maß zurückschrauben. Eine grundlegende Steuerreform, heute ein unerfüllbarer Wunschtraum, wird dann Wirklichkeit werden. Es liegt im Bereich des Möglichen, dass der gesamte öffentliche Aufwand mit deutlich weniger als 10% des BIP gedeckt sein wird. Steuern im heutigen Sinne wird es dann kaum mehr geben.

Mit der Lösung der Sozialen Frage wird sich das Wesen des Staates und mit ihm auch das der Politik grundlegend ändern. Die Politik wird aufhören, das zu sein, was sie heute ist, die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln nach außen und ein Klassenkampf nach innen. Die letzte Politik dieser Art wird mit dem letzten Monopol zu Grabe getragen. Die neue Politik wird sein: Dienst am Gemeinwesen in einem Staat gleichberechtigter Bürger und Bürgerinnen, vereinigt zu friedlicher Arbeit im freien Wettbewerb. Der Staat würde im Sinne Franz Oppenheimers zur Freibürgerschaft werden, zu der durch Selbstverwaltung geleiteten freien Gesellschaft.

Es erscheint müßig, Betrachtungen darüber anzustellen, wie diese künftige, auf der Grundlage einer entmonopolisierten und daher sozialen Marktwirtschaft aufgebaute Gesellschaftsordnung zu bezeichnen sein wird, ob als „sozialer Liberalismus“, als „liberaler Sozialismus“ oder „Universalismus“. Im Grunde genommen verwirklicht sie die Ideale, die den Besten aller Zeiten vorgeschwebt haben.

Wer an das Recht des Menschen glaubt, arbeiten zu dürfen und den vollen Ertrag seiner Arbeit zu erhalten; wer die verheerenden Wirkungen des Klassenkampfes und der Wirtschaftsstörungen erkannt hat, die zum Totalitarismus drängen; wer den Krieg mit seinen Greuel- und Gewalttaten verabscheut; wer die Sklaverei hasst und die Freiheit liebt – der möge mithelfen, das bestehende unwürdige System (kapitalistische Marktwirtschaft mit angehängtem „Sozialstaat“) durch die echte Soziale Marktwirtschaft zu ersetzen.


Die sehr späte Verwirklichung der idealen Makroökonomie, die bereits 1916 von Silvio Gesell vollständig und widerspruchsfrei beschrieben wurde, lässt sich auch so erklären, dass es eine absolut groteske Vorstellung wäre, seit fast einem Jahrhundert in der Natürlichen Wirtschaftsordnung zu leben und erst heute die Feststellung zu machen: Hoppla, wir leben ja schon im Himmel auf Erden !


Stefan Wehmeier, 10. Dez. 2012


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